Fulda - Weser und Loire

Samstag, 9. Juli 2011

Von Polle bis Hameln

Weser 9. Tag

Ich träume vom Fliegen. Eine gesuchte Fähigkeit, die ich bei einem Polizeieinsatz in einer besonders schlimmen Angelegenheit einsetzen soll. Ein brutaler Lustmörder wird von verschiedenen Polizeieinheiten gejagt. Er hat etliche Leute massakriert, ist hochgefährlich, versteckt sich in den Wäldern. Ich fliege zwischen den Bäumen hindurch, aber das Dickicht versperrt die Sicht. Erfolglos kehre ich um, ändere die Strategie, schwebe hoch über der Landschaft, aber von hier ist alles viel zu klein und zu weit weg! Anschließend wechselt die Szene in ein Haus, vor mir ist der Mörder, ein dicklicher, behäbig wirkender Riese, er flüchtet die Stiegen hinauf, befindet sich dann oben vor einer verschlossenen Tür in der Falle. Ich steige vor ihm in die Luft, wir ringen miteinander, er wehrt sich mit aller Kraft, daher setze ich ein Messer ein, schlage ihm einen Finger ab, dann noch einen, Blut, es scheint ihm nichts zu machen, der Riese will einfach nicht aufgeben! Ich schlage ihm die Hände ab, er attackiert mich jetzt  mit seinen entsetzlichen Armstümpfen! Kurz entschlossen zerstückle ich das Ungeheuer ganz und verkünde den nachrückenden Polizisten, dass es mit ihm zu Ende ist. 
Dieser Traum wird in den nächsten Tagen einen realen Bezug zum deutschen Alltagsgeschehen bekommen. 
 
03.00 Uhr. Ich höre laute Paddelschläge. Da ist jemand auf dem Wasser! Erwache vollends, springe aus dem Zelt. Unsere Boote liegen auf ihrem Platz neben dem Zelt, aber woher kommen die Geräusche? Draußen in der Flussmitte zieht im ersten Dämmerlicht ein gespenstisches Ruderboot in rascher Fahrt den dunklen Fluss hinunter.

Wir stoßen uns Stunden später mit unseren bepackten Boote bei herrlichem Sonnenschein vom Steg in Polle km 92,2 ab und ziehen gemächlich stromab. Bald sehen wir das am Vortag so poetisch verklärte Dorf Brevörde und genießen im Anschluss die Flusswindungen zur Rühler Schweiz. Bequem führt einen der Fluss nach Bodenwerder km 110,8, dort befinden sich unterhalb der Brücke viele Wohnwägen, dazwischen Verkaufsstände mit allerlei Ramsch, sehr belebte Campingplätze. Eine besondere Attraktion für Paddler befindet sich gleich rechts unterhalb der letzten Wohnwagenreihe, wo eine Hinweistafel km 111,1 oberhalb einer Landerampe auf einen Hebel an einem Bronzedenkmal hinweist, den man nach Einwurf einer kleinen Gebühr an Münzgeld nach rechts in südliche Richtung drücken soll. Der Hebel symbolisiert das Ruder des Barons Münchhausen und beim Umlegen Richtung Stromauf kehrt sich die Fließrichtung der Weser um und die Paddler können sich so angeblich durch die wunderbare Landschaft wieder nach Polle zurück treiben lassen, ein Versprechen, dass sich seitdem viele Weserwanderer etwas Kleingeld kosten ließen. Da wir weder ausreichend Münzgeld noch den Nerv haben, die Lügengeschichten des Barons Münchhausen vor Ort zu testen, fahren wir nach einigem Überlegen weiter.
Die schöne Sonne und die Ankündigungen von Karte und Flussführer, dass die wunderschöne Landschaft bald einen natürlichen Ausklang finden wird, legen eine Pause am nächstbesten Strand nahe.  Ein solcher ist unterhalb Bodenwerder bald gefunden. Die Weser erweist sich als relativ kühl. Um mir das Trockenen  der Badehose zu ersparen, steige ich nackt in die graugrünbräunlichen Fluten und schwimme mit Elan gegen die Strömung an.  Während dessen taucht das Ausflugsschiff „Dornröschen“ auf und vom Weiten sehe ich die teils mit Ferngläsern bewaffnete Passagiere. Das Schiff schiebt sich langsam den Fluss hinauf und ich bleibe lieber bis zum Bauch im Wasser stehen, denn ich bin mir nicht sicher, wie die Leute hier auf Nackte reagieren.

Schloss Hehlen mit Zwiebeltürmchen

Erfrischt geht es weiter. Die Berge weichen nach und nach in die Ferne, als historische Attraktion in diesem Abschnitt präsentiert sich das Renaissanceschloss Hehlen km 116,3 am linken Ufer. Mit der Abflachung steigt der geberblich genutzte Charakter, beginnend mit einem Kalkwerk gleich nach dem Schloss, von dem der Wind an diesem Tag weiße Staubwolken über den Fluss treibt.

Bedrohlicher Anblick des Atommeilers Grohnde
Dem nun sich verlangsamenden Lauf des Flusses folgend erblicken wir schon von Weitem die Kühltürme des Kernkraftwerks Grohnde km 124,5.

Gelber Schleim unterhalb des Kernkraftwerks beeinträchtigt die Wasserwelt
Nach dem Kühlwasserkanal des Atommeilers verändert sich der Fluss in auffälliger Weise. Gelbbrauner Schleim treibt fortan auf dem Wasser, sammelt sich zu dicken Schlieren zwischen den Buhnen, in denen verschmutzte. mit Schleim verklebte Wasservögel dahin tümpeln. Als Laie kann man nur Mutmaßen, aber ich gehe davon aus, dass diese augenfällige Beeinträchtigung des Gewässers entweder von einer künstlich erhöhte Wassertemperatur und damit einhergehend ein Absterben von Organismen und/oder von irgendwelchen Substanzen die durch den Betrieb der Anlage freigesetzt werden, verursacht wird.
Das nun vor Hameln der erste Stau beginnt, macht die Sache nicht besser. Es wirkt so, als könne der Fluss diesen Schleim nicht verarbeiten, Biegung um Biegung bietet sich dasselbe Bild. Bei viel Wind und Sonne paddeln wir unserem Tagesziel entgegen und sind froh, dass wir weiter oben ins Wasser gesprungen sind. Ein Bad in dieser verdächtigen Brühe wäre nicht nach unserem Geschmack gewesen.
In den Uferregionen kündigt sich die Peripherie der Stadt an, verriegelte Gittertore zu den Bootsstegen, seitlich umwunden mit Stacheldraht, Stahlbarrieren. Solche Einrichtungen sprechen viel über das Sicherheitsgefühl in der Menschen hier.  Der Kanuclub Hameln km 134,3 wiederum schickt seine Boten in Form von Drachenbooten, die an uns vorbeiziehen.

Steg des Kanuklubs an der Hafenspitze in Hameln

Es sind dann auch sehr entgegenkommende Teilnehmer einer solchen Drachenbootausfahrt, die uns am Klubgelände den Weg zur Anmeldung zeigen. Die Nähe der Stadt ist vom Platz aus spür- und hörbar, die Atmosphäre freundlich, vielleicht ein wenig zu offen, denn die Wiese für das Zelt relativ schmutzig, was sicher vom regen Betrieb herrührt. Vor dem Zeltaufstellen muss ich eine Unmenge Zigarettenkippen entsorgen und will mir gar nicht vorstellen, dass sich Wassersportler, falls sie sich schon so eine permanente Nikotinvergiftung antun, ihren stinkenden Abfall einfach vor das Zelt fallen lassen.

Ein Radfahrer entspannt sich von den Strapazen

Am Platz treffen nun auch junge Radfahrer ein, liegen dann vor dem Zelt im Gras. Gleich neben uns steht das bescheidene Zelt des ersten klassischen Wanderbootfahrers, den wir "on tour" antreffen. Immer wieder lassen sich mit dem freundlichen älteren Herrn ein paar Worte wechseln, interessant ist auch  immer wieder die Begutachtung der aufs notwendigste reduzierten Ausrüstung, Sesselchen, Tischchen, Kocher, Tellerchen im Kleinformat und nicht zuletzt des Bootes, ein Lettmann Einer, was sonst.

Vor dem Aufstellen muss der Rasenfleck von Unmengen an Zigarettenkippen befreit werden

Bald trifft auch ein Seemannstyp mit indianisch gestyltem Gatz-Kanu ein. Am Kanadierheck klebt ein Bild vom Bootsbesitzer zusammen dem Konterfei eines Cherokee-Häuptlings. Der Mann lässt sein Kanu unter einem Baum stehen, geht stolzen Schrittes quer über die Campingwiese und wirft mit einer Bewegung ein Mini-Wurfzelt auf einen freien Platz, es steht sofort in fertiger Position. Mehr braucht man nicht.
Die Leute gegenüber wechseln sich hin und wieder ab, um das Baby herum zu tragen und zu beruhigen.

Vor uns entsteht eine Familienzeltstadt. Ein ausgiebig schreiendes Baby wird in dem Geschehen herum getragen, der Rest sitzt plaudernd beisammen, es wird gekocht und auf Campingtischen reichlich aufgetragen. Anbei liegen zwei Boote mit der Aufschrift Eisenhüttenstadt.
Wir erfahren vom Altpaddler, dass seine nächste Station Rinteln km 163,0 ist, dort will er aufhoeren und das Auto holen. Seine Frau wartet schon zu Hause. Der kauzige Paddler vom Vortag ist mittlerweile auch da. Er läuft genervt am Platz herum, denn er hat eine anstrengende Episode mit den streikenden Eisenbahnern bei der Autorückholung hinter sich, erzählt unser Altpaddler.
Wir sind heute 42 Kilometer weit gekommen, einige Tagestourenfahrer hatten wir überholt, aber es kommt an diesem Abend niemand mehr hier an. Auch die unkommunikativen „gelben Paddler“ haben sich in Luft aufgelöst.
Wir machen uns auf den Weg, die Altstadt zu besichtigen. Entlang der Weser reihen sich Cafes und Schiffrestaurants. Das Ufer wir zusätzlich von Jugendgruppen belebt, die durch den obligaten Konsum an Alkoholika keinen Vertrauens erweckenden Eindruck machen. Wieder fallen trinkende Mädchen mit übereinander gestapelten Sixpacks unangenehm ins Auge.

Straßenzug in der Altstadt von Hameln
Das Zentrum macht mit all den Fachwerkbauten, Kirchen, dem Rattenfängerhaus, einen grandioser Eindruck. Es ist immer ein besonderes Erlebnis, wenn man vom Fluss kommt. Die Tage am Wasser beein"flussen" die Wahrnehmung auf interessante Weise. Wir blicken verwundert in die belebten Plätze, viele Menschen wirken auf uns aufgekratzt, als erwarten sie etwas sensationelles, als könnte man jeden Moment eine gute Gelegenheit versäumen, als warte man die Wirkung von einer Sache ab, die soeben stattgefunden hat. Das Leben scheint hier ganz anders abzulaufen als bei unserem Einstiegspunkt in Bad Hersfeld. Die architektonisch und historisch überreiche Altstadt von Hameln bildet einen Kontrast zur wirtschaftlich vielleicht nicht ganz so rosigen Situation vieler Einwohner. Sozial erleben wir die Stadt genauso bunt durchwachsen wie die Fasaden, jedoch im Gegensatz zu ihnen ungeschniegelt, unlackiert, als wäre hier unter den T-Shirts und Jeans ein kleines Stück Mittelalter hängen geblieben.

Erinnerungen an den Rattenfänger durch eine Aufschriften an Häusern.
Der Rattenfänger von Hameln erzählt recht einprägsam von den tragischen Auswirkungen einer Mentalität, die einerseits auf magische Veränderung hofft - und diese auch bekommt, aber dann für die vollbrachte Zauberarbeit nicht wie vereinbart zahlen will und für diesen Vertrauensbruch mit seiner Zukunft büßen muss.
"Ein bunt gewandeter Fremdlich lockte für Lohn mit seiner Zauberflöte alle Ratten der Stadt in die Weser - Als ihm der Lohn verwehret wurde entführte er die Kinder der Stadt."
Am Rückweg zum Kanuklub ein Bahnmotiv wie aus Jack Kerouacs Erzählungen

Den Rundgang haben wir genutzt, um uns in einem Supermarkt für das Abendessen und den morgigen Sonntag einzudecken. Hungrig kommen wir zum Zelt und genießen unter Bäumen am Wasser Dosenmakrele, Käse, Oliven mit „Körner“ (Vollkorn-Brötchen) zu einem Glas Wein wie ein Festmahl.


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