Fulda - Weser und Loire

Montag, 11. Juli 2011

Von Rinteln bis Minden

Weser 11. Tag


Morgendliche Skizze der Kirche St. Sturmius in Rinteln

Wir lassen uns wie immer Zeit in der Früh. Rechts von uns, vor dem Klubhaus ein Vater mit drei Töchter, einem Sohn, alle sehr laut und lebendig. Friederike die älteste (die Namen bekommt man mit der Zeit mit), wie unser Junior so um die 16, mit langen blonden Haaren, macht einen sehr reizenden Eindruck, Mikee die mittlere sprüht vor Eigenleben und dann die kleine Christine, welche gern „fremdeln“ geht, und uns bei einer ihrer Runden von Zelt zu Zelt Muschelschalen schenkt. Der Vater ist dauernd mit den Kindern beschäftigt, Anweisungen, Streit schichten und was noch so anfällt. Nicht einmal Waschen kann er sich in Ruhe.  Zähneputzend läuft er über die Wiese zum Bootssteg hinunter, um irgend eine ausufernde Aktion seiner Kinderschar wortreich einzudämmen. Während wir nun ebenfalls dabei sind, unsere Sachen reisefertig zu machen, bekommt der Vater einen Schreianfall, da sein Sohn Olle und die Mädchen beim Zeltabbau etwas falsch angestellt haben. Doch nach einiger Zeit kehrt wieder Frieden ein. 


In dieser ruhigen Phase kommen Vater und Kinder plötzlich zu uns herüber und betrachten neugierig unser "Indianerzelt". Ich lade sie ein, rein zu kommen, erkläre, dass es sich um ein skandinavisches Zelt handelt und dass man wenn man wollte, darin Feuer machen könnte. Der Vater interessiert sich sehr für verschiedene Ausrüstungsgegenstände, er gestaltet ein kurzes Outdoorseminar für seinen Nachwuchs. Nachdem wir auch unseren Kanadier in Hinblick auf Familientauglichkeit usw. begutachtet haben, kommt das Gespräch auf die Route und der Vater gibt uns den Tipp, nicht bis Porta Westfalica, sondern ein Stück weiter nach Minden zu paddeln, wo ein angenehmer Platz sein soll. Eigentlich eine ganz nette Familie.
Wir packen gemächlich unser Kanu und freuen uns auf die angenehme Etappe bei herrlichem Wetter. Wir treiben ein wenig mit der Strömung und hören nebenbei den Wetterbericht im Radio, leider soll es nur noch ein, zwei Tage schön bleiben, ab dann ist mit Verschlechterung zu rechnen. Wir versuchen es positiv zu  nehmen, Wettervorhersagen müssen nicht 100prozentig eintreffen. Eine Meldungen in den Nachrichten wirkt wie eine Bestätigung meines merkwürdigen Traumes von der Jagd nach einem Sexalverbrecher in der realen Welt. Hier sinngemäß zur Meldung ein Text aus dem Internet:
Entflohener Sexualstraftäter gefasst. Es hatte einen Tipp aus der Bevölkerung gegeben.
Oldenburg (dapd). Ein aus dem Maßregelvollzug einer Klinik in Niedersachsen geflohener Sexualstraftäter ist gefasst worden. Die Polizei nahm ihn in der Nacht zum Montag fest, wie ein Sprecher des Lagezentrums in Hannover sagte. Es habe einen Tipp aus der Bevölkerung gegeben, der schließlich auf die Spur des Mannes führte. Nähere Einzelheiten waren zunächst nicht bekannt.
Der als sehr gefährlich geltende 40-Jährige war am Samstag aus einer Klinik in Wehnen (Landkreis Ammerland) entkommen. Er befand sich seit August 2010 aufgrund eines Unterbringungsbeschlusses des Landgerichtes Oldenburg wegen einer Vergewaltigung in der Klinik.
dapd, SACHSEN FERNSEHEN


Wir genießen Strömung und Landschaft
Unser Junior findet einen Ballon mit einer angebundenen Postkarte vor Eisbergen km 168,7 im Wasser. Der Sender hat an einem Wettbewerb eines Lokalsenders teilgenommen und bittet den Finder des Ballons, die Karte an die Redaktion zu schicken, angeblich wären tolle Preise zu gewinnen. Viel erwarten wir zwar nicht, nehmen die Karte trotzdem mit, um sie bei nächster Gelegenheit abzusenden.

Kohlekraftwerk Veltheim mit elektrischer Fischscheuchanlage km 177,2
Es bleiben Zeit und Muße für viele Fotos, das im Norden hingestreckte Bergland  drängt die generell nach Norden fließende Weser zu einem Ost-West Verlauf ab, bis sie bei Bad Oeynhausen  einen großen Bogen macht und bei Porta Westfalica km 197,5 die natürliche Barriere durchbricht. Zu Hause habe ich beim Studium des Flusslaufes auf der Karte nicht angenommen, dass wir so weit kommen. Die Strömung macht hier die Kilometer. Bremen ist nur mehr wenige Tagesetappen entfernt.
Gegen Mittag wird es heiß und wir suchen einen Flecken Strand mit einem schattigen Baum zum Grillen. Durch die vielen Buhnen weist das Ufer zahllose Buchten mit kleinen Sandstränden auf, doch nur sehr wenige haben gleichzeitig einen Baum mit geeignetem Schatten auf dem richtigen Fleck Sand und befinden sich auf der richtigen Flusseite, je nachdem wo der gelbe Schaum in langen Schlieren auf dem Wasser treibt und in manchen Kehrwässern einen dichten Belag  bildet.

Eisenbahnbrücke bei Vlotho km 181,5

Endlich finden wir einen Strand mit einem einzigen schattigem Strauch, sogar eine kleine Feuerstelle ist bereits vorhanden. Dafür kein Brennmaterial weit und breit. Trotz ausgedehnter Suche in Mannshohen Brennnesseln ist stromauf, stromab absolut kein Feuerholz zu finden, also fahre ich mit dem Kanu zum anderen Ufer um ein paar Äste von einem umgestürzten dürren Baum zu holen. 

Nach diesen angenehmen Stunden am Weserbogen halten wir direkten Kurs auf die Hügel am Horizont.  Über uns kreisen Segelflieger, welche den Aufwind an den Berghängen nützen.

Fernmeldeturm am Jakobsberg

Die Stadt Porta Westfalica km 197,5 hat sich von Weitem durch den Fernmeldeturm am Jakobsberg angekündigt. Am linken Ufer rückt gemächlich das Denkmal von Kaiser Wilhelm I.  in das Blickfeld. Vom aus Fluss aus wirkt es sehr imposant. Zusammen mit dem Wittekindsberg bildet die Weserscharte den Durchbruch zur Norddeutschen Tiefebene und wir gelangen danach in langen Biegungen bis Minden.




Faltboot- und Skiclub Minden e.V. km 202,2. Die Familien welche wir in Rinteln flüchtig kennen gelernt haben, haben ihre Zelte alle bereits am Platz stehen, sind selbst aber abwesend, nur die Kinder spielen im Bootshaus lautstark wie immer Tischfußball. Der Platzwart zeigt uns das sehr komfortabel ausgestattete Vereinshaus überlässt den Schlüssel und gibt auch einige Tipps zu den Bahnverbindungen an der Mittelweser, denn langsam beginnt der Countdown zur Rückreise. Last not least kommt auch hier der obligatorische Stempel in mein improvisiertes Fahrtenbuch.

Da es die letzten Tage durchwegs heiss war,  haben wir meist für den Tagesbedarf eingekauft, da viele Lebensmittel in der Hitze nicht unbedingt besser werden. Es mag banal klingen, aber auch die Jagd nach frischen Brötchen ist vom Wasser aus etwas besonderes. Der Weg zum nächst gelegenen Supermarkt in Minden ist durch Bauarbeiten dermaßen aufgewühlt, dass sich die Passanten nach Gutdünken einen Pfad über staubige Halden suchen müssen.
Vom relativ harmonischen Umfeld des Flusses kommend, ist im Getriebe der Stadt alles doppelt so laut und chaotisch. Meine Aufmerksamkeit wird auf eine ältere Frau gelenkt, die mit Verrenkungen und verzerrtem Gesicht bis zur Schulter an einer Hausecke in einer Spalte steckt und mit einer Hand versucht, ein großes verklemmtes Stahltor von der Innenseite zu öffnen. Davor steht wartend ein Auto, plötzlich reckt eine dicke Frau ihren Kopf aus dem Wagenfenster und schreit, „Was haste so blöde zu gucken du Idiot!“ Ich gehe erstaunt an ihrem Fahrzeug vorbei, schaue wahrscheinlich immer noch blöde, denn sie wird noch aggressiver, lässt auf der anderen Seite die Fensterscheibe herab und schimpft was das Zeug hält. Ohne auf die beleidigenden Argumente im Detail einzugehen entfährt es mir spontan: “Sie sind wahrscheinlich nur dumm, ein dummer Mensch“ und gehe weiter. Ich höre sie hinter meinem Rücken weiter toben.  Nur wenige Meter weiter sitzt ein Asiate auf einem Plastiksessel auf dem Baustellenschotter vor seinem Laden und grinst von einem Ohr zum anderen. Offensichtlich weidet er sich an dieser Szene.

Fachwerkhaus an der Hohen Straße - "zu verkaufen"

Vielleicht ist heute ein besonders eigenartiger Tag, liegt es am instabilen Wetter? Wir erleben die Altstadt als nahezu "subversiv". Kaputte Typen, aggressiv wirkende Jugendliche, dazwischen ganz biedere Winkel, feine Damen, herausgeputzte Häuschen, gleich daneben herber „Hafenstadt-Flair“ vermischt mit Fachwerk. Gotik, schmutzige Nischen zwischen historischen Bauten und Häuser jüngeren Datums.

Haus mit grünem Vollbart

Gepflegte Kleinbürger-Idylle Mauer an Mauer mit tätowierten Alkoholikern.  Stecke ich meine Nase zu tief in die Reviere der Stadt? Südländische Muskelpakete mustern mich auffällig und finster, sodass meine Frau sich ängstlich an mich drückt.  Was ist hier los? Liegt das an meinen gebräunten Paddlerarmen, die schlampige Bootsfahrerkluft?  Ich studiere kurz mein Spiegelbild in einem Fenster und sehe einen eindringenden braungebrannten Exoten. Wirkt meine dahin schlendernde Gestalt plötzlich provokant auf hiesige dunkelhäutige Typen, die ihre Reviergrenzen abstecken? Wir erledigen rasch unsere Einkäufe und sehen zu, dass wir noch vor der Dämmerung die Altstadt hinter uns lassen.

Liebeschlösser auf der Fußgängerbrücke
Bei der Brücke unterhalb der Schiffsmühle sind wir dann wiederum mit saufenden Jugendliche allein im Auwald.  Sie kommen uns entgegen und gebärden sich laut und ausfällig, wir tun so, als interessiere uns eine Informationstafel. Sie lassen uns unbehelligt und gesellen sich zu weiteren Trinkkumpanen unter der Brücke.

Blick stromauf, rechts am Ufer die bekannte Schiffsmühle


Den Blick von der Brücke auf die Weser wollen wir trotzdem nicht versäumen, zu unserer Beruhigung kommen jetzt auch "normale" Leute, Senioren, Radfahrer, Frauen mit ihren Handtäschchen des Weges, niemand wirkt durch die zusammengerotteten Jugendlichen irritiert.  Wir sind trotzdem froh, als wir endlich im geschützten Bereich des Klubs eintreffen. Bei einem Glas Rotwein am Ufer genießen wir die Ruhe am Fluss. Die vielen abtriftenden Jugendlichen, das Versagen einer Gesellschaft gibt zu denken.

Unser fleißiger Familienvater ist hingegen wieder mit seiner Kinderschar dauerbeschäftigt. Er ist dermaßen in Aktion, dass ich eine Einladung auf ein Glas Rotwein auf später verschieben muss. Doch der Mann ist in seinem Element, keine Frage. Wohlbeleibt in sich versunken sitzt halbrechts vor uns „Eisenhüttenstadt“  als schweigender Gegensatz im Klappstuhl, zeigt der Welt mürrisch die Schulter des Kalten Kriegs. So einsam sitzt er da, Frau und Tochter im Zelt, dass er mir Leid tut. Ihm sollte ich ein Glas Rotwein anbieten, als Zeichen der Nachbarschaft, tue es dann doch nicht, wirkt vielleicht zu anbiedernd, wie eine aufdringliche Geste. Ich denke, es sind zumindest Gedanken in die richtige Richtung.

Unser Junior hat endlich einen Gleichaltrigen zum Reden gefunden. Er freut sich total, dass ähnliche Interessen vorhanden sind, nun sitzen die beiden die halbe Nacht am Bootssteg und reden über PC-Spiele.
Vor dem Schlafengehen vertrete ich mir deie Beine und gelange zum Zaun des angrenzenden Militärgeländes. Studiere die Silhouetten der penibel aufgereihten Amphibienfahrzeuge, alles geparkte Militärgeheimnisse, still strömt der Fluss im dunklen Bett und halbrechts erfüllt ein mittlerweile bekanntes schnarrendes Geräusch die Nachtluft - „Eisenhüttenstadt schläft bereits.“ Ein ziemlicher Monolog das ganze.

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