Fulda - Weser und Loire

Sonntag, 3. Juli 2011

Von Melsungen bis Kassel

Fulda 3. Tag

 Es ist Sonntag und nass-trübes Wetter, doch hat der Regen in der Früh eine Zeit lang aufgehört und wir bauen das Zelt trocken ab. Es kommt eine Gruppe Holländer. Sie setzen zwei Ruderboote ins Wasser. Einige von ihnen scheinen wegen der feuchten Luft eher mies gelaunt zu sein. 

Der freundliche Platzwart im Wohnwagen besitzt einen vierjährigen, verspielten Dalmatiner, der ihn andauernd auf Trab hält. Beim Abschied frage ich zum Spaß, ob er uns den lieben Hund ein Stück mitgeben möchte. Wir würden ihn weiter unten wieder an Land lassen. 
„In ein fremdes Boot steigt er sicher nicht ein! Außer bei mir vielleicht. Er macht alles was ich ihm anschaffe.“ 
Ich frage ihn, ob er den Hund auf Kajaktouren mitnehme.  
"Nein nicht mehr, ich fahre nicht mehr Kajak, seit vier Jahren." 
Warum das?

Nachdem wir an seiner Lebenstragödie Anteil genommen haben, treten wir nachdenklich die Weiterreise an

Unversehens sind wir auf einen wunden Punkt gestoßen und er begann uns von seiner Frau zu erzählen, die vor vier Jahren an einem Septembertag bei einer gemeinsamen Paddeltour auf der Fulda in Kassel verunglückt war. Sie waren gemeinsam in einem Zweier unterwegs, nach der Bootsrutsche bei ungünstigen Strömungsverhältnissen in einen Wasserstrudel geraten und unterhalb des Wehrs gekentert. Sie erlitten beide einen Kälteschock und Horst überlebte, weil ein zufällig anwesender Arbeiter ihn schnell am Fuß packen und aus dem Wasser ziehen konnte, für seine Frau kam jede Hilfe zu spät.
Betroffen legen wir ab.

 Doch die kontemplative Stimmung währt nur kurz. Mittlerweile sind die Holländer vor uns zur Schleuse Melsungen km 42,3  unterhalb des Klubs gefahren und intensiv damit beschäftigt die Schleusenkammer von mächtigen Treibholz-Stämmen zu befreien. Ich versuche mit zu helfen, aber die Truppe ist irgendwie eigensinnig am Werk. Deshalb steige ich zurück ins Boot und wir warten geduldig am hinteren Ende der Kammer, bis diese umständliche Schleusung ihren Lauf nimmt.

"In den Schleusenkammern kann nicht mit glatten Wänden gerechnet werden."

Endlich wird die Senkung des Wasserspiegels eingeleitet, Wasser quillt zwischen den historischen Steinquadern hervor, das Tor wird per Handrad manuell geöffnet. Das vordere Ruderboot fährt hinaus, im zweiten warten drei Frauen mit von Wand zu Wand gespreizten Rudern vor dem offenen Tor. Nach einer Minute werde ich leicht ungeduldig, es ist kein Grund zum Warten ersichtlich. 

„Bitte ziehen Sie ein wenig ihre Ruder rechts ein, dann können wir hinaus. Unsere Boote sind schmal, wir kommen da rechts vorbei.“

„Nein!“

Ich versuche es noch einmal. "Ziehen Sie doch nur ein wenig ihre Ruder rechts ein, dann können wir hier entlang der Wand vorbei.“

„Nein!“

„Aber warum? Wenn Sie hier warten müssen, lassen Sie uns doch bitte hinaus fahren!“

Grimmige Blicke, wildes Kopfschütteln.

So ein hysterisches Verhalten kann ich nicht einordnen, es bleibt nichts übrig als zu warten. Die Erinnerung an Rothenburg ist frisch. Ruderer dürften auf diesen Gewässern sehr eigenartig sein.

Irgend jemand scheint ein Zeichen gegeben zu haben, denn die Damen versuchen aus der Schleuse zu kommen und erst jetzt sehe ich, dass sie es ohne Steuermann einfach nicht schaffen. Hektisches Zerren, verzweifelte Gesichter, das Boot dreht sich am Stand, fährt gegen die Wand. Da kommt der Steuermann die Leiter herunter und hilft den Frauen aus der Schleuse. Mittlerweile haben wir uns vorbei gedrückt und sind endlich draußen.

 Schwälle, seichte Stellen, ab und zu Wehre mit Anlagen zum bequemen selber Schleusen. Kalte Regenschauer im Juli kühlen die Urlaubslaune jedoch ab. Neopren statt Sonnencreme.  Trotz gutem Wasserstand immer wieder Grundberührung. Wie die Ruderer  damit klar kommen? Und wie sieht das bei Niederwasser aus? Ab und zu überholen uns die Ruderer, dann legen sie an und wir kommen wieder an ihnen vorbei, so geht das den Rest des Tages. 
An einer Schleuse holen wir die Ruderer wieder ein. Die Boote liegen in den Kammern, Wasser oben, die Ruderer machen hier ein großes Picknick. Da kommt Bewegung in die Gruppe, die Steuermänner binden die Boote an und leiten extra für uns eine Schleusung ein. Das ist wiederum ausgesprochen nett! Es folgt ein entspanntes Gespräch mit dem Fahrtenleiter, sie wollen nach Hannover. Alle sind jetzt sehr freundlich, winken beim Ausfahren sogar zurück.

 Die Tagestemperatur von unter 15 Grad kriecht selbst in die nassen Neoprenschuhe, dafür gut gelaunte Vögel überall, Greife, Reiher, Gänse, Schwäne, Häher, Enten, Taucher und sonstige. Ungehemmter Gesang. Bei Sonnenschein müssen die Biotope hier noch paradiesischer sein! Die Strömung wird nun stetig langsamer, ein neuer Staubereich kündigt das letzte Wehr vor Kassel an. Die Natur bekommt den Charakter städtischer Peripherie, abwechselnd Nutzung, Kultivierung und verwilderte Winkel.

Autobahnbrücke vor Kassel

 Die Biegungen dehnen sich, vor uns erscheint der surreale Triumpfbogen der A44 km 74,0 talüberspannend auf betongrauen Pfeilern, gekrönt vom Donnern und Rauschen motorisierter Hektik. Wie schnell sich die Perspektiven umkehren! Vor wenigen Tagen noch sind wir selber mit verkrampftem Gasfuß über Dutzende solcher Brücken gerast, hoch über dem Talboden das eine oder andere Flüsschen wurde über eine Hinweistafel gerade mal kurz registriert. Jetzt gleiten wir lautlos mit zarten Wellen in der realen Flussmitte, in motorlosen Plastikschüsseln durch eben jenen Triumpfbogen aus Stahl, der ein riesiges Tor zur Stadt bildet, durch welches der Mensch den naturgeschützten Streifen Wildnis verlässt. 

Auf dieser veralteten Gleisanlage ist der Bootswagen die einfachere Alternative.

 Beim Wehr Neue Mühle km 75,7 heißt es rechts aussteigen. Zwar befindet sich links eine Schleuse, die ist jedoch für Paddler gesperrt, da dort gut sichtbar ein Kanal gefährlichen Sog erzeugt. Die Ruderer haben uns vor dem "Triumphbogen" der A44 wieder überholt und danach den auf Schienen laufenden Übersetzungswagen offenbar beim Ausstieg stehen gelassen. Die durch den Wald laufenden Gleise wirken ohnehin sehr marode und da Sauerweins alter DKV-Flussführer schon 1991 rät, besser den eigenen Bootswagen zu benutzen, tun wir das auch.
Und holen dadurch die Ruderer wieder ein, die am anderen Ende dabei sind mit vereinten Kräften ein Boot ins Wasser bringen, während das andere immer noch auf dem Gleiswagen liegt. Die haben sich mit der alten Anlage sehr abgeplagt.
 Wir folgen der langen Biegung nach Kassel und legen bei km 78,4 gegen 19.00 am Steg des Polizeisportvereins Grün–Weiß an. Es ist Sonntag und sowohl hier, als auch am Gelände des nebenan liegenden Frauenrudervereins ist kein Mensch anwesend. Beide Klubs wurden uns in Melsungen empfohlen, wir versuchen es zuerst beim PSV, wählen eine Telefonnummer und haben Glück. Der Vorstand himself ist in 20 Minuten zur Stelle, um das Klubgelände auf zu sperren.
Abteilungsleiter Ulrich Röhr bringt gute Laune in diesen nasskalten Sonntag Abend, das gegenseitige Vertrauen ist schnell hergestellt, Gästeschlüssel, Anlage tip top, sehr kameradschaftliche Atmosphäre, es riecht nach polizeisportlichem Ehrgeiz.  Das Zelt hat allen Platz auf der leeren Wiese, auch sonst sind wir hier gut aufgehoben.

Ein paar Schritte weiter gibt es einen Chinesen mit herrlich viel Essen, auch hier sind wir fast die einzigen Gäste, üppige Fastenspeise, Glasnudeln, Nudeln mit Huhn und Ei, die Hälfte eingepackt nach Hause, reicht für ein weiteres Mittagessen! Und das mit einem Paddlerhunger!

Im Park dahinter klatscht ein Publikum im Regen zu einem Abendtheater – danach rockt uns ein fernes Open Air in wohligen Schlaf.




Polizeisportverein  Grün–Weiß in Kassel





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