Skizze: Zeltwiese im Bremer Kanuwanderer e.V. |
Früh raus. Regen. Eine gelockerte Abspannung der Zeltplane hatte Wasser eindringen lassen. Es ist über die Bodenplane gelaufen und hat einen dicken Roman und den in Bad Hersfeld geliehenen DKV-Flussführer von 1991 durchtränkt. Ich habe den Flussführer gestern Abend noch extra herausgelegt, damit er nicht vergessen wird und vorsichtshalber den Roman darunter geschoben, damit das geborgte Buch vom Boden her nicht feucht wird. Jetzt ist er trotzdem ein nasser Klotz. Während des Frühstücks föhne ich Seite um Seite, die dünnen Blätter werden durch die heiße Luft wellig und das Gebinde bläht sich zum doppelten Umfang auf. Es ist mir unglaublich peinlich wie das Buch jetzt aussieht.
Das Waffenverbot kündigt das Aggressionspotenzial in Bahnhofsnähe bereits an. |
Es ist ein langer Marsch zum Bahnhof, die Zeit wird knapp. Dazu kommt eine Menge Unsicherheit wegen der laufenden Bahnstreiks. Am Informationsschalter gibt uns ein Angestellter mürrisch und skeptisch Auskunft, er druckt uns immerhin eine angeblich streiksichere Verbindung nach Bad Hersfeld aus. Dann heißt es Anstellen mit Wartenummer beim „Fahrkarten-Service“, wir geraten an eine verbissen dreinblickende Blondine, die wir um eine günstige, aber vor allem streikfreie Verbindung bitten, idealerweise mit Familienermäßigung.
Es sind noch 15 Minuten Zeit bis zur Abfahrt unserers Zuges, aber die Frau arbeitet demonstrativ langsam. Sie holt gemächlich einen Packen Formulare hervor, beginnt alle möglichen persönlichen Daten zu erheben. Wozu das alles? Sie will uns irgendwelche Ausweise andrehen, die wir in einem Jahr vielleicht in Anspruch nehmen könnten! 10 Minuten vor Abfahrt haben wir immer noch keine Karte. Jetzt wird die Dame böse auf uns, weil wir die Bahnbestimmungen für Jugendermäßigungen nicht wissen, ihr angeblich Daten vorenthalten hätten! Dieses "Service" ist der wahre Psychoterror! Sechs Minuten vor Abfahrt rückt sie endlich drei Tickets heraus. Wir wissen noch nicht, wo unser Bahnsteig ist, konnten weder Wasser noch Proviant einkaufen. Ich frage sie schnell, ob sie denn auf diese perfide Art auch streikt, da lächelt sie süffisant, aber es bleibt keine Zeit zum Diskutieren, wir müssen rennen.
Meine Frau hat noch drei Wünsche – Mineralwasser, etwas zu Essen, eine Zeitung. Das alles noch? Wir verpassen noch den Zug! Ich stürme zum nächstbesten Kiosk, reiße hektisch drei kleine Flaschen Mineralwasser aus dem Regal, reiche den Verkäufer einen 20-Euroschein. Was, das soll über 5 Euro kosten?
Wir wurden umgehend ohne Gegenleistung um 20 Euro erleichtert. |
Nein, das sind Wucherpreise, der Pfand interessiert uns nicht, das ist uns zu teuer, so lassen wir uns nicht abzocken! Schnell stelle ich die Flaschen in das Regal zurück, aber der Verkäufer, mit der Statur eines Schwergewichtlers und einem braunen Boxergesicht rückt die 20 Euro nicht mehr heraus. Ich fordere scharf die Herausgabe, der Verkäufer ist auf der Stelle beleidigt, wird plötzlich sehr aggressiv und beginnt unter dem Vorwand die Polizei zu rufen, nach irgendwelchen Gauner-Kumpanen zu pfeifen. Die Situation wirkt bedrohlich. Mit dieser Bahnhofsmafia wollen wir uns nicht anlegen! Das sind die 20 Euro nicht wert! Bevor uns diese feine Gesellschaft vermutlich noch gänzlich ausraubt, flüchten wir aus dieser dubiosen Ecke, sprinten durch die Menge, finden zum Glück sofort unseren Bahnsteig und springen in letzter Sekunde in den wartenden Zug, die Türen fallen zu, wir atmen auf, hier sind wir sicher und den Zug haben wir auch nicht verpasst.
Um 20 Euro erleichtert lassen wir uns in ein paar freie Sitze fallen, zunehmend entspannt schauen wir aus dem Fenster. Wir fahren eher selten mit der Bahn und versuchen es nun zu genießen. Die Ruhe währt nicht lange. In Göttingen werden wir von einem arroganten Ehepaar harsch von den Plätzen verjagt, wir haben die winzigen Lämpchen übersehen, die anzeigen, dass dieses Sitze bereits reserviert sind. Meine Entschuldigung straft die Dame mit einem besonders verächtlichen Blick. Diese Leute wiederum behandeln uns von oben herab wie Landstreicher. Schnell stehen wir auf und setzten uns zwei Reihen weiter, wo keine Reservierungs-Lämpchen brennen. Ich sehe nun die Frau von schräg gegenüber mit wichtiger Miene auf den Mann einreden. Soll ich mich über diese arrogante Art jetzt stundenlang ärgern? Nein, das wäre schade um die Zeit.
Skizze einer harschen DB-Fahrgastin deren reservierten Sitzplatz wir irrtümlich belegten. |
Ich hole das Skizzenbuch heraus und beginne ihre Physiognomie zu zeichnen.
Der schwarze Zopf, die Haare wären sogar schön zu nennen. Aus dem veränderten Blickwinkel des Zeichnens, baue ich die Situation neu auf – es entsteht ein menschliches Gegenüber, wie wir alle in unserem kleinen Schicksal verfangen. Verwirrt schaut die Frau zu mir herüber, fragende Neugier glättet ihre Züge, dann lehnt sie sich weg, aber eine winzige Skizze hat sie schon eingefangen.
In Hannover müssen wir umsteigen. Im Zug hatte ich den Schaffner nochmals gefragt, o die sogenannte CAN-Verbindung nach Hersfeld ebenfalls vom Streik betroffen ist. Der Schaffner hat uns versichert, dass dies absolut nicht der Fall ist. Am Bahnsteig in Hannover werden wir eines Besseren belehrt. Der Anschlusszug kommt nicht, die Anzeige verschwindet in aller Stille. Entsetzt und ratlos schauen sich die wartenden Zugkunden um und bald gibt es keinen Zweifel mehr, der Zug nach Hersfeld ist ebenfalls wegen Streik ausgefallen. Es tauchen Bahnbedienstete verschiedener Firmen auf, die Auskünfte erteilen. Wir kämpfen uns durch das Chaos zu einer Bediensteten der Deutschen Bahn. Zuerst erkläre ich unsere Route und die wiederholten Zusicherungen, dass wir für eine streiksichere Verbindung bezahlt haben, dafür auch Umwege und Mehrkosten in Kauf genommen hätten. Die Frau am Schalter hat uns jedoch absichtlich eine falsche Karte ausgestellt! Ich zeige ihr die Karte und den Ausdruck der Information zum Beleg. Streik mag o.k. sein, aber die wissentliche Täuschung und Irreführung eines zahlenden Kunden ist schon eine andere Sache. Um uns bildet sich ein kleiner Kreis von erbosten Bahnreisenden, die heftig nickend unsere Konversation mitverfolgen und die Bahnbedienstete entschließt sich uns zu helfen. Sie telefoniert energisch herum, aber – nichts, leider haben wir den möglichen Anschluss verpasst, es gibt heute keinen Zug mehr nach Hersfeld.
Doch dann überfliegt sie noch einmal den Zettel mit den Bahnverbindungen - da! „Hier haben Sie ja einen Zug über Fulda stehen! Der muss doch … der steht da drüben auf Gleis 2! Sie müssen schnell dort rüber! Aber ich muss Ihnen noch die Karte umschreiben!“ Frau und Junior laufen schon, sie sollen den Fuß in die Tür stellen! Schnell kritzelt die Bedienstete etwas auf das Ticket und ich sprinte die Stufen hinauf, Stufen hinab, der Zug steht noch! Zielsprint, Sprung, es zischt und die Türen fallen zu. Ein Intercity nach München, Fernreisemief in der trägen Raumluft, reserviert bis auf die letzten Quadratmillimeter, die Leute stehen in den Gängen, verwirrt glotzen wir in die verzerrte Landschaft als wir mit über 200 kmh dahin flitzen. Leicht verwirrt versucht auch die Schaffnerin das Gekritzel auf unserer Fahrkarte zu entziffern, meine Erklärung dazu hält sie immerhin für glaubhaft. Endlich Fulda. Wir sind ein großes Stück über unser Ziel hinausgeschossen und müssen nun mit einem weiteren Zug die Regionalstrecke wieder zurück. Ein IC nach Hersfeld fährt ein und wir werden von einem sehr freundlichen Schaffner beim Einstieg empfangen. Der Zug ist ebenfalls knallvoll, aber er sperrt extra für uns „Bahnstreikopfer“ ein Dienstabteil auf, in den Gepäcksnetzen sind Mineralwasser-Kartons gelagert. Generös deutet er mit seiner Rechten hinauf und sagt: „Ist jetzt kostenlos, nehmen Sie soviel sie wollen!“
Klaus-Peter Sauerwein erwartet uns am Bahnhof Hersfeld, wir haben uns mehrmals telefonisch abgesprochen, dabei machte er den Vorschlag, uns abzuholen. Der Empfang ist sehr herzlich. Kurz schildern wir einige Eindrücke von der Reise, sein freundlicher Kommentar: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück.“
Ein weiser Wink zu Selbstkritik. Nach den Erlebnissen, der letzten Tage wirkt Sauerwein wie die Sonne nach einem Unwetter. „Habt ihr den Flussführer auch nicht vergessen?“ Er ist sehr erleichtert, dass wir das Buch zurückbringen, denn es ist im Klub nicht von allen gut geheißen worden, dass er Klubeigentum an Unbekannte verborgt hat. Doch in diesem Fall machte er einfach mal eine Ausnahme und er freut sich, dass er sich auf uns verlassen konnte. Während Sauerwein seinen Golf durch das ruhige und mondäne Hersfeld lenkt, wird mir erst bewusst, was er für ein markanter Anfangs- und Endpunkt unserer Wesertour ist, eine Art Schlüsselfigur dieses kleinen Abenteuers.
Vor dem Schranken des Hersfelder Kanuwanderer e.V. haben Vandalen die bereitgestellten Säcke mit Müll beschädigt und den Unrat über den Asphalt verstreut. Am Klubgelände ist Gott sei Dank alles in Ordnung, unser Auto steht unversehrt da, es startet auf Anhieb. Ein wenig verlegen gebe ich Sauerwein den notdürftig getrockneten, aufgequollenen DKV-Flussführer zurück, bei meiner Entschuldigung winkt er schnell ab und meint „Aber das macht doch nichts, ist ja ein Flussführer, der ist nun mal am Wasser und muss ab und zu nass werden können!“
Er bietet sich noch an, uns den Weg zur nächsten Autobahnauffahrt zu weisen, die am anderen Ende von Hersfeld ist. Er fährt uns durch die Stadt vor, bis wir den Weg von alleine finden und dann brausen wir die Autobahn nach Norden. Einen schöneren, herzlicheren Abschluss hätte diese Tour nicht finden können.
Klaus Peter Sauerwein vom Kanuwander e.V. Hersfeld |